Die Schauspielerin Eva Kewer hat sich viel Zeit für ein Gespräch mit uns genommen, in dem wir nicht nur über ihre Laufbahn, sondern auch über die Arbeit als Actrice im Allgemeinen sowie die Gegenwart und Zukunft des Theaters in Deutschland gesprochen haben.
Eva Kewer ist festes Mitglied des Schauspielensembles am Theater in Kiel. In der vergangenen Spielzeit verkörperte sie zahlreiche Figuren von Haupt- bis Nebenrolle und war Teil des jetzt schon legendären Johnny-Cash-Abends „Last Night I Had The Strangest Dream“. Dabei ist Kewer Quereinsteigerin und kommt eigentlich aus dem Musical. Als Schauspielerin in Kiel gelandet ist sie, weil sie steppen kann. Geblieben ist sie, weil sie offenbar noch einiges mehr auf dem Kasten hat.
Wir haben uns mit Eva Kewer getroffen und ausführlich darüber gesprochen, wie sie den Weg auf die Bühne gefunden hat, was die Freuden und Schwierigkeiten des Schauspiels sind und wie es mit dem Theater in Deutschland weitergehen kann.
Fangen wir ganz vorn an: Wie bist du dazu gekommen, Schauspielerin werden zu wollen? Das ist ja nichts, wo man einfach so hineinrutscht oder nach dem BWL-Studium mal schaut, wo man so landet …
In der Grundschule wird man ja schon gefragt, was willst du später mal werden? Den ersten Beruf, den ich meiner Mutter genannt habe, war „Anrufbeantworter“. (Lacht.) Später wollte ich Archäologin werden. Meine Interessen waren damals eher geschichtslastig. Und dann bin ich irgendwann mal, ich glaube, ich war elf oder zwölf Jahre alt, mit meinen Eltern ins Theater gegangen. Wir haben das Musical „Wicked“ in Stuttgart gesehen. Meine Eltern erzählen heute immer noch, dass ich aus dem Theater rausgegangen bin und über zwei Stunden keinen Piep von mir gegeben habe. Es hat so in mir gearbeitet.
Ich war damals fasziniert davon, dass Menschen eine solche Bandbreite an Fähigkeiten erlernen können. Denn in der Ausbildung zur Musicaldarstellerin lernt man drei Disziplinen auf einmal: Tanz, Gesang und Schauspiel. Für mich war das wie eine Superkraft, das an diesem Abend so zu sehen, dass Menschen so was aufführen können, live auf der Bühne. Danach habe ich angefangen, zu Hause zu singen.
Meine Mutter hat mir dann irgendwann erzählt, dass es nicht nur dieses Stück gibt, sondern auch viele andere. Von da an habe ich angefangen, CDs zu sammeln und habe schließlich auch entdeckt, dass es den Broadway gibt und mir immer mehr CDs aus Amerika von meinen Eltern schenken lassen.
Etwas später habe ich auch Gesangsunterricht bekommen. Irgendwann in der Oberstufe habe ich mit dem Tanzen angefangen. Und mein Vater kam auf die großartige Idee, mich zu Theaterworkshops zu schicken.
Ich bin dafür immer wieder nach Hamburg gefahren und habe an unterschiedlichen Schulen an diversen Theaterworkshops teilgenommen. Und dort hat mir das erste Mal jemand gesagt: das könntest du beruflich machen.
Direkt nach dem Abitur habe ich dann ein Stipendium bekommen und meine Musical-Ausbildung begonnen. Und von da an hatte ich den Fuß in der Tür.
Was heißt das, du bist da so in eine Musical-Ausbildung reingegangen? Also, wie stellt man sich das vor? Steht da jemand, der sagt „Jo, du hast Potenzial. Kannst morgen wiederkommen?“ Oder ist das ein langwieriger Bewerbungsprozess?
Das ist ein riesiger Bewerbungsprozess! Es gibt ganz, ganz viele Leute, die das gerne machen möchten. Das Genre „Musical“ wird ja auch in Deutschland immer populärer.
Bevor man sich an einer Musical-Akademie bewirbt, nimmt man erst mal wahnsinnig viel Unterricht in den unterschiedlichen Disziplinen. Und irgendwann meldet man sich an für eine Audition, vergleichbar mit einem Vorsprechen.
Von da an beginnt der Bewerbungsprozess und der geht über mehrere Tage und mehrere Runden. Beim ersten Mal singt man vor, dann spielt man, dann wird mit dir an unterschiedlichem Material (Texten, Szenen, Songs) gearbeitet. Danach gehst du wieder nach Hause und irgendwann im Laufe des Tages bekommst du eine E-Mail, dass du für die zweite Runde eingeladen wirst.
Dann gehst du wieder hin, und jedes Mal, wenn du wiederkommst, macht man irgendetwas Neues mit dir und testet irgendetwas aus. Das ging, glaube ich, insgesamt drei oder vier Tage bei mir. Und in jeder Runde kommen weniger Bewerber zurück. Und ich glaube, bei uns waren es so Pi mal Daumen, zwischen 700 und 800 Leute – die sich auf die insgesamt zehn Ausbildungsplätze beworben haben.
Wann und wie bist du nach Kiel gekommen?
Ich bin hier in Kiel eigentlich nur ins Festensemble gekommen, weil sie eine steppende Schauspielerin gesucht haben. Und Steppen wird in der Regel in der Musicalausbildung doch etwas ausführlicher unterrichtet als bei den Schauspieler:innen. Dementsprechend hatte ich in diesem Sonderfall einen Special Skill, der es mir ermöglicht hat, hier eine Chance zu bekommen.
Ich habe meine Ausbildung in Hamburg gemacht und von Hamburg nach Kiel zu wechseln, war wirklich schön. Ich kam während des Hochs der Corona-Pandemie hier her. In Hamburg war bei uns eine wirklich verzweifelte Stimmung am Theater. Einige mussten sich andere Berufe suchen, verloren ihr Zuhause oder konnten ihren Familien nicht mehr die Möglichkeiten finanzieren, die sie vorher noch hatten. Für mich war es daher schön, dann an einen anderen Ort zu kommen, an dem Theater noch möglich war und man Sicherheit vermittelt bekam.
Gibt es so etwas wie Vorbilder, die dich bei deiner Berufswahl beeinflusst haben?
Also ich hatte keine konkreten Vorbilder im Sinne von Schauspieler:innen oder Darsteller:innen, sondern ich war einfach fasziniert davon, dass egal, welches Stück man sich anschaut, immer irgendjemand dabei ist, der irgendetwas ganz besonders macht.
Wenn du diese Person aber in ein anderes Stück steckst, fällt dieses Besondere manchmal nicht mehr auf und umgekehrt. Jemand, der in einem Stück sehr untergeht, kann sich in einem anderen ganz anders wiederfinden. Es ist immer schön, jemanden zu finden, dessen Element man in einem Stück wiedererkennt. Ich fand es einfach toll, dass da zum Beispiel Menschen einen Handstand machten und dabei ein hohes C sangen. Das fand ich absolut faszinierend und das und vieles mehr wollte ich gerne lernen.
Wenn man Musical gelernt hat, wie geht’s dann weiter? Wird man dann von Stage Entertainment eingekauft und in irgendwelche Produktionen gesteckt oder bewirbt man sich einzeln auf konkrete Rollen?
Ich habe tatsächlich erst spät verstanden, dass wenn man eine Musicalausbildung in drei Disziplinen absolviert, dies nicht bedeutet, dass man dann in all diesen Bereichen arbeiten darf. In Deutschland wird das immer noch sehr getrennt, anders als zum Beispiel in den USA oder England. Wenn man Musicaldarsteller:in in Deutschland ist, ist man hier nicht automatisch auch Schauspieler:in und umgekehrt.
Um im Musical an Rollen zu kommen, hat man eigentlich zwei Optionen. Entweder man arbeitet mehr oder minder frei und springt immer von einer Produktion zur nächsten und bewirbt sich demnach immer nur auf die eine Produktion. Ist die Show zu Ende, bist du wieder arbeitssuchend und bewirbst dich wieder auf einen neuen Job. Das heißt, Musicaldarsteller:innen verwenden ganz viel Zeit darauf, herumzureisen, weil sie immer zur nächsten Audition fahren müssen.
Die andere Option, die du hast, ist, in eine En-Suite-Produktion zu gehen. Stage Entertainment produziert zum Beispiel: „König der Löwen“, „Frozen“. Da spielst man dann tatsächlich mehrfach die Woche dieses eine Stück über, je nach Vertrag, Monate bis Jahre hinweg.
Und leider, leider ist es so, dass im Musical in Deutschland die Nachfrage sehr eindimensional ist. Wenn man jetzt als junge Frau da reingeht, spielt man ganz viel die junge, süße, kleine, die dann irgendwann am Ende des Stücks heiratet. Und es geht nach wie vor sehr viel um Männer. Das ist vom Inhalt her nicht sehr emanzipiert und hat oft auch noch Sexismus zur Basis.
Und das ist etwas, das ich sehr gerne verlassen habe. Denn dass man dieses Bild einer Frau repräsentiert, wenn man zu einer solchen Audition geht, wird teilweise auch erwartet.
War das der Hauptgrund für dich, zu gehen?
Es hat ganz viele Gründe gehabt. Erst mal das Herumreisen. Man hat Dauerstress und Existenzängste, denn es kann natürlich auch sein, dass man über längere Zeit keine neue Anstellung findet. Die Lebensunterhaltungskosten aber auch in dieser Zeit gleich bleiben. Oder aber du musst etwas spielen, was du nicht spielen möchtest.
Und es gibt einen ganz, ganz wesentlichen Unterschied zwischen Musical- und Schauspiel-Produktionen, was die Kreativleistung der Darsteller:innen angeht. Der ist mir aber erst aufgefallen, als ich hier als Schauspielerin angefangen habe. Wenn man eine Musical-Darstellerin ist, bekommt man vor Probenstart zwei Bücher zugeschickt. In dem einen ist Text, in dem anderen ist Musik. Du lernst alles auswendig, dann gehst du zur Probe. Dort sind dann verschiedene Menschen, Choreograf:innen, Regisseur:innen, alles Mögliche als Team zusammengestellt. Und die sagen dir alle ganz konkret, was du tun sollst. Und deine spezielle Qualität liegt darin, etwas exakt so ausführen zu können, wie man es von dir verlangt. Es perfekt reproduzierbar zu machen. Wenn du das gut kannst, bist du in deinem Fach sehr gut. Es wird aber niemals gefragt, wie interpretierst du das? Und siehst du eine Problematik in der Darstellung?
Du darfst auch in der Regel, weil es ganz extreme Lizenzauflagen für Musicals gibt, im Text nichts verändern. Du darfst nichts streichen, du darfst auf gar keinen Fall etwas hinzufügen. Und dadurch ist diese Arbeit wahnsinnig statisch und hat nur einen winzigen Prozentsatz an eigener Kreativleistung.
Inwiefern ist das im Schauspiel anders?
Das ist eine komplett andere Sache! Da geht man zu einer Konzeptionsprobe. Manchmal sieht man den Text sogar erst, wenn man zur Konzeption geht. Am ersten Probentag bekommst du da, oder wenn du Glück hast, dann eben auch zwei Wochen vorher, das Buch. Da ist dann ein Text drin. Oft ist es ein Text, der hinterher überhaupt nicht so exakt inszeniert wird. An ihm wird eigentlich immer noch ganz viel verändert und es wird diskutiert und gestritten. Und deine Hauptaufgabe als Schauspielerin besteht darin, dass du versuchst, möglichst viele Varianten der Darstellung zu finden, ganz viel auszuprobieren, ganz viele Ideen durchzuspielen, bis dann die regieführende Person sagt „Halt, das möchte ich!“
Also dass man selber ganz viel schöpfen muss und ganz viel daran arbeiten muss und am Ende kommt, wenn es gut läuft, etwas dabei raus, was du selber gemacht hast, was du entworfen hast, was dir liegt, was du gerne spielst.
Und im Musical fragt dich niemand danach, ob du es gerne spielst. Hauptsache, du machst es perfekt, so wie man es dir gesagt hat.
Wie war es für dich, jetzt plötzlich so zu arbeiten?
Ich habe dann meine erste Schauspielproduktion hier gemacht, mit Homo Faber. Und ich weiß noch, Johannes Ender hat damals die Regie gehabt und dann kamen sie mit diesem Buch und ich fragte: „Okay, und was ist die Anweisung, was soll ich damit tun?“ Ich war es nach den vorherigen Jahren so gewohnt, fertige Ansagen und klare Grenzen zu bekommen. Und das erste Mal im Leben gefragt zu werden, was ich damit tun möchte, war für mich komplett überfordernd.
Noch einmal zurück zum Wechsel vom Musical ins Schauspiel. Eigentlich hättest du dich am Theater gar nicht bewerben können?
Es gibt wahnsinnig viele hervorragend ausgebildete Schauspieler:innen in ganz Deutschland. Das ist ein Riesenmarkt. Und gerade wenn man jetzt in ein staatliches Festensemble möchte – die bekommen jeden Tag einen Haufen Bewerbungen. Und wenn du als Musicaldarsteller:in dabei bist, hast du in der Regel keine Chance, dass du dich zwischen den anderen so gut ausgebildeten Schauspieler:innen durchsetzt. Da die Schauspieler:innen in ihrer Ausbildung den Schwerpunkt natürlich hauptsächlich auf das Schauspiel legen, die Musicaldarsteller:innen ihren Schwerpunkt zu annähernd gleichen drei Teilen splitten, fehlt dir dieser Teil an Erfahrung und Übung, was sich eventuell als Nachteil herausstellen kann.
Dementsprechend ist man eigentlich nicht interessant. Man kommt gar nicht durch die Tür, um sich zu präsentieren, sondern man scheitert schon am Schreibtisch. Das wird aber langsam besser, tatsächlich.
Die meisten Stücke, die in Kiel gespielt werden, sind ja keine Weltpremieren. Sondern die sind schon zigmal aufgeführt oder verfilmt worden. Siehst du dir so etwas vorher an, um für dich herauszufinden, wie du das machen willst?
Das ist sehr stark stückabhängig. Manchmal denke ich, es ist gut, wenn ich viel weiß. Manchmal denke ich, es ist überhaupt nicht gut, wenn ich etwas weiß. Weil ich dann mit so einer vorgefertigten Idee da hineingehe.
Bei „Homo Faber“ explizit: Das hatte ich als Abi-Lektüre. Ich kannte das Buch also sehr, sehr gut. Ich habe es aber tatsächlich erst verstanden, als wir damit gearbeitet haben. Weil man das als so junger Mensch nicht verstehen kann, glaube ich. Ein Mann, der so in einer Midlife-Crisis ist und sich in seine Tochter verliebt und überhaupt Vater-Tochter-Beziehungen …
Auch dieses „Ich sterbe“ und „Was ist die Schuld, die ich in meinem Leben zurücklasse?“ Das sind Themen, die versteht man nicht mit 17. Man fängt ja gerade erst an, sein Leben zu finden.
Dementsprechend hatte ich einen sehr verschulten Blick auf dieses Werk. […] Wir haben uns dann ganz viel mit dieser Schuldfrage beschäftigt und haben auch viel darüber diskutiert. Über unser eigenes Narrativ, wie wir über uns selber im Leben erzählen. Und was davon eigentlich übrig bleibt, wenn wir dann gehen oder was so ein Erbe ist.
Oder wenn man Stücke macht, die angelehnt sind an historische Ereignisse. Jetzt gerade spielen wir „Die Brücke von Mostar“, wo es um den Bosnien-Konflikt geht. Da haben wir uns wahnsinnig viele Dokumentarfilme angesehen und gar nicht so viel diskutiert, sondern viel geguckt, viel konsumiert, viel versucht, einen Eindruck davon zu bekommen, was da tatsächlich passiert ist.
Vermutlich schwingt da dann auch die Sorge mit, etwas falsch zu machen?
Oh ja, auf jeden Fall! Worüber wir auch lange gesprochen haben, war der religiöse und kulturelle Anteil, den wir im Stück repräsentieren wollten. Wir stellen zum Beispiel Muslimas dar, tragen Hijabs und es wird im Stück gebetet. Und wir waren uns nicht sicher: wie setzen wir das respektvoll um, als Menschen, die eben nicht muslimisch geprägt sind?
Und wir haben dann einen Imam besucht und viel nachgefragt. Uns war wichtig, dass wir niemanden durch vermeidbare Fehler beleidigen oder verletzen. Und es gibt ja ganz spezielle Haltungen fürs Gebet, welche Hand liegt über welcher, wie wird das Hijab traditionell getragen … da haben wir uns schon viele Gedanken gemacht.
Der Imam hat damals etwas gesagt, das ich ganz toll fand; er meinte, es geht gar nicht so sehr darum, ob wir es richtig oder falsch machen, sondern um den Grund, aus dem wir das machen. Wenn der Grund ist, dass wir versuchen, diese Schicksale sichtbar zu machen und dieser Geschichte eine Stimme zu geben, die positiv ist, also Empathie dafür zu wecken, dann ist es nahezu egal, wie wir es machen. Wenn das Motiv positiv ist, darf man das machen. Und das fand ich eigentlich ein sehr schönes Statement.
Aber es ist natürlich ein wichtiges und großes Thema, gerade in der Zeit kultureller Aneignung. Man sollte da wirklich auf sehr sensible Sohlen gehen. Hier besteht schlicht ein höheres Risiko, irgendjemanden ungewollt zu beleidigen oder zu verletzen. Gerade wenn wir uns selbst nicht repräsentierende Personengruppen darstellen wollen.
Kiel gibt sich da ja große Mühe. Mit feinen, subtilen Textänderungen, langen Begleittexten in den Programmheften …
Man muss aber auch sagen, das Ensemble ist sehr sensibel für kritische Themen und kontroverse Stücke. Wenn man anfängt, an so einem Text zu arbeiten, gibt es Momente, in denen diskutiert wird, weil ein Kollege oder eine Kollegin sagt, sie oder er möchte das auf der Bühne nicht so sagen. Dann wird die Sorge ernst genommen und als Team thematisiert. Das ist auch ein ganz großer Mehrwert an dem Ensemble hier, dass es überhaupt diese offene Kommunikation gibt. Das ist nicht in jedem Haus so und das schätze ich hier sehr.
Ich finde, das stößt immer bei „bösen“ Figuren an Grenzen. Wenn der SS-Offizier auf der Bühne jemanden wörtlich als „Du dreckiger N-Wort“ beschimpft, ohne das N-Wort auszusprechen, ist das nicht gerade glaubhaft …
Hier gibt es keine klare Antwort und darum auch bei uns im Team bei jedem solchen Stück aufs Neue eine Bewertung, ob die Wortwahl oder ganze Handlungen so dargestellt werden sollen oder nicht. Es hat viel mit dem Mehrwert oder eben der Sinnlosigkeit hinter diesen Inhalten zu tun. Helfen Begriffe wie diese, das Statement zu setzen, Probleme aufzuzeigen oder Kritik zu äußern, dann hat ihr Bestehenbleiben eine Begründung. Wir würden niemals aus Desinteresse oder Faulheit derart kritische Inhalte beibehalten.
Wenn man sie im Stück wieder findet, war dies eine bewusste Entscheidung. Doch auch wenn wir entscheiden, dass der kritische Inhalt der Szene oder dem Stück mehr Gewicht verleiht, so bleibt noch der innere Konflikt der darstellenden Person, die zugleich Figur, aber auch Privatperson ist. Und auch die eigenen Zweifel können trotz historischer oder szenischer Relevanz des Textes dazu führen, dass Teile umgeschrieben oder gestrichen werden. Kurz, wir machen uns viele Gedanken über das Stück, das Team, das, was beim Zuschauenden ankommen könnte und den Einzelnen, bis eine klare endgültige Entscheidung getroffen wird.
Aber es gibt den Raum für uns selbst zu sagen, ich bringe es nicht über mich, das zu sagen. Ich schaffe das nicht. Ich fühle mich da so angegriffen, in meinem moralischen Verständnis.
Die deutsche Theaterlandschaft ist sehr geprägt von sehr alten und sehr klassischen Texten, und da hat man ständig das Problem, dass man den Originaltext sieht und sagt: „Da müssen wir ran, darüber muss man heute streiten.“
Was ich mir so unendlich schwer vorstelle, ist das Auswendiglernen von so viel Text …
Diese Frage höre ich häufiger, weil wir so viele Stücke parallel auswendig lernen. Es ist wie ein Muskel: Man trainiert das. Und irgendwann hat man einfach eine sehr schnelle Auffassungsgabe für Texte.
Natürlich besteht sehr viel unseres Tageshandelns daraus, dass jemand uns etwas sagt und wir müssen es sofort verarbeiten und sofort wiederverwenden. Das heißt: Wenn wir auf der Probe beschließen, wir streichen hier Text und tun eine andere Zeile irgendwo anders hin, dann müssen wir uns das ziemlich schnell merken, damit wir das jetzt nicht 15-mal machen müssen, sondern vielleicht nur zweimal und dass die Änderung dann schon drin ist.
Eine Herausforderung wird es dann tatsächlich, wenn man eine Sprache vor sich hat, die einem überhaupt nicht eigen ist. Also wo ich länger gebraucht habe, ist zum Beispiel Schiller. Schiller schreibt großartig, aber man muss sich da ein bisschen reinfuchsen, weil das eine Sprache ist, die ich so nicht gebrauchen würde. Sie ist nicht natürlich für dich im Gefühl. Ich musste ganz lange damit arbeiten, bis ich das Gefühl hatte, dass sie mir ganz leicht über die Lippen kommt.
Oder bei den Webern haben wir schlesisch gesprochen. Das hat ewig gedauert, bis wir alle auf derselben Schiene gefahren sind.
Wie kommt man dann ins Schlesische? Wird da ein Schlesisch-Coach eingestellt? Oder schaut man sich Filme an?
In der Regel kommt niemand zu uns, der das coacht. Wir haben versucht, es mit unseren Möglichkeiten bestmöglich zu lernen. Wenn man das Original-Original nimmt, ist es jedoch leider sehr schwer verständlich. Wir haben das dann auch etwas eingedeutscht, damit man das auch, wenn man das Stück nicht kennt, verstehen kann. Es ist immer noch nicht leicht zu verstehen, aber wenn man sich ein bisschen reingehört hat, geht es.
Wo es dann ab und zu Coachings kommt, ist zum Beispiel jetzt bei „Lazarus“. Da haben wir die Kollegin [Nina Vieten, Anm. d. Red.], die Japanisch sprechen muss. Das ist natürlich etwas, da kann man sich nicht durchschummeln. Da muss man sich dann wirklich hinsetzen und sie hat wahnsinnig viel Arbeit investiert, das dann auch wirklich korrekt zu machen. Da hat sie sich tatsächlich auch einen Coach gesucht, der ihr das dann eingesprochen hat und sie hat dann wirklich jeden Tag das Sprechen geübt.
Aber in der Regel schummeln wir uns auch so ein bisschen um Dialekte herum, die dann so halb richtig sind. Da versuchen wir immer, als Ensemble einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Welche Fähigkeiten hast du dir im Musical angeeignet, von denen du jetzt im Schauspiel am meisten profitierst? Vielleicht auch im Vergleich zu anderen, die diesen Weg nicht gegangen sind. Vielleicht außer dem Gesang …
In einem Bereich habe ich schnell gemerkt, dass ich einen gewissen Vorteil habe. In meinem Leben und meiner Ausbildung habe ich sehr viel Zeit darauf verwendet, meinen Körper zu trainieren und an seine Grenzen zu bringen, so dass ich viele Möglichkeiten habe, das Gelernte in Stücke mit einfließen zu lassen.
Gerade wenn wir jetzt „Diener zweier Herren“ spielen … wenn man da mit Biomechanik arbeitet und man einfach eine größere Bandbreite hat, weil man so beweglich ist, das auszureizen, dann ist das natürlich umso lustiger.
Um das zu bekommen, muss man früh anfangen, das zu lernen und auch bis heute viel üben, um es beizubehalten.
… auch um das Verletzungsrisiko zu minimieren …
Genau. Aber tatsächlich gibt es da eher andere Tücken, die das Publikum gar nicht so als Tücke begreift. Zum Beispiel, wenn der Boden schief ist und man die ganze Zeit so mit der Hüfte gekippt steht. Das ist etwas, da kriegt man relativ schnell Schmerzen, egal, wie man sich aufwärmt und entgegenarbeitet. Das ist aber etwas, das merkt man halt immer auch erst ab Woche drei. Und das Publikum merkt ohnehin nicht, dass alle so hinken.
Gibt es bestimmte Rollen und Projekte, die dir besonders am Herzen gelegen haben oder wo du dich selbst am besten fandest?
Ich muss sagen, ich bin sehr selbstkritisch. Eine Eigenschaft, an der ich schon ewig arbeite. Ich bin damals in meiner Ausbildung das erste Semester durchgefallen. Das Feedback war damals, dass ich zu aggressiv mit mir selbst ins Gericht gegangen bin. Ich habe dann auch mit einer ziemlich brachialen Kraft gearbeitet. Meine Lehrer meinten darauf: Man sieht einfach, dass es dir überhaupt keinen Spaß macht. Du versuchst, dich so selbst zu besiegen. Und das ist Quatsch.
Ich gucke mir auch niemals Videos von mir an, was mir schwerfällt, da ich sehr fokussiert auf das bin, was nicht so gut gelaufen ist und weniger auf das, was sehr gut war.Ich finde das immer ganz schlimm, mich so zu sehen. Und mich dann auch selbst zu beobachten, weil man dann immer, wenn man irgendwas gesehen hat, denkt: „Oh Gott, ich stehe schon wieder so. Ich muss jetzt anders stehen.“
Von der Redaktion empfohlener Inhalt
An dieser Stelle findest du einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Du kannst ihn dir mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an dritte übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Figuren, die ich sehr, sehr gerne gespielt habe … das war zum Beispiel Luise Miller, „Kabale und Liebe“. „Homo Faber“, als ich dann irgendwann keine Angst mehr vor dem Stück hatte, hat mir auch sehr viel Freude gemacht.
Das lag aber auch auf jeden Fall an meinen beiden Kollegen:innen, Yvonne Ruprecht und Marco Gebbert, die einfach Gold wert sind. Jedes Mal, wenn man auf die Bühne geht … passiert immer etwas Neues. Man entdeckt das Stück immer wieder neu. Um irgendwann zu verstehen, dass das ein Glück ist, dass immer wieder etwas Neues passiert, das muss man erst mal verstehen. Auch mit dem Risiko zu leben, dass es an manchen Abenden auch schiefgeht, das Experiment.
Katrin spiele ich auch sehr gerne in „Courage“ [Mutter Courage und ihre Töchter, Anm. d. Red.]. Es war eine ganz tolle Herausforderung, eine Figur zu spielen, die nicht spricht. Also einfach jemanden zu spielen, der nur über seinen Körper erzählt. Und der auch in diesem ganzen Figurenensemble eine ganz eigene Qualität mitbringt, weil es die einzige Figur ist, die wirklich Mitleid hat. Und die auch die Mutter liebt, die ja so wahnsinnig grob ist. Es war eine immens schwere Aufgabe, aber das Ergebnis, das macht einfach sehr viel Freude.
Es ist witzigerweise so ein Stück, in welchem ich mir ausnahmsweise mal keinen Text merken muss. Das heißt, ich bin selbst auch Zuschauerin und Zuhörerin im eigenen Stück.
Von der Redaktion empfohlener Inhalt
An dieser Stelle findest du einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Du kannst ihn dir mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an dritte übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Dazu passend: Eine der bemerkenswertesten deiner Performances war in „Die Schlacht am Mackie Creek“. Da hast du ja sehr wenig Text und ich fand es trotzdem total faszinierend, dich im Blick zu behalten, wenn die anderen gesprochen haben, weil du da auf der Bühne ja einen ganz eigenen Film fährst …
Ja, das war auch eine interessante Gratwanderung.Einerseits spiele ich natürlich eine Figur, die große Schwierigkeiten hat, mit den anderen mitzuschwimmen, die dann auch immer wieder etwas Komisches macht, und gleichzeitig darfst du ja niemals etwas machen, was den Fokus wegzieht vom Dialog.
Das war ziemlich schwierig, deswegen haben wir uns irgendwann für dieses Zeitlupen-Prinzip entschieden, denn: Je langsamer etwas ist, desto uninteressanter ist es eigentlich, und trotzdem siehst du, dass eben etwas gemacht wird. Was natürlich auch gepasst hat, weil sie ja sowieso so eine extreme Schleppschaltung hat, was man auch merkt: Sie versteht eben auch alles, was dort passiert, nur in diesem reduzierten Tempo.
Was ich auch immer noch sehr, sehr gerne spiele, ist „Lazarus“. Das liegt aber auch ganz doll an der Arbeit mit Malte Kreutzfeldt, welcher das Stück inszeniert hat. Ich kam aus „Mutter Courage“, also aus einem Stück, in dem Carlos Wagner als Regisseur eine ganz, ganz explizite Vorstellungen hatte von dem, was wir da tun werden, an diesem Abend. Und ich war natürlich einfach der leiseste Faktor.
Und dann kommt man zu „Lazarus“ und es ist so viel Musik! Das Buch ist aber einfach ein Chaos! Es werden so viele Erzählstränge aufgemacht und man hat so viele Theorien, wie das zusammenhängen könnte, aber keine greift so wirklich … und das war einfach eine total tolle Arbeit. Mal abgesehen davon, dass Malte Kreutzfeldt natürlich einfach ein sehr, sehr guter Regisseur ist, der genau weiß, wie viel Platz er lassen muss, damit alle sich wohlfühlen und alle auch etwas entwickeln können, mit dem sie gerne auf die Bühne gehen – und gleichzeitig stimmt das Gesamtbild.
„Lazarus“ war auch für mich ein absolutes Highlight! Erstens: David Bowie! Dann aber auch neben den anderen Stücken – „Rose Bernd“, „Die Weber“ – die ja alles andere als Gute-Laune-Stücke sind …
Stimmt, das ist uns auch aufgefallen – wir hatten eine sehr ernste Spielzeit.
… Lazarus ist jetzt auch kein reines Feel-Good-Stück, aber doch irgendwie bunter, leichter und halt mit sehr viel Musik …
Das ist auch wirklich interessant! Also David Bowie … das ist Musik, die für jüngere Menschen nicht mehr so bedeutsam ist. Und trotzdem kommt ganz viel tolle Resonanz von ebendiesen jüngeren Leuten, die ganz begeistert von den Liedern sind. Und ich habe das Gefühl, man bringt diese Musik zurück, sodass sie jetzt wieder neu auflebt.
Und ich meine, David Bowie hat nur dieses eine Musical gemacht und wollte das auch wirklich machen. Das war auch wieder so ein neuer Selbstentwurf. Und er hat da auch sicherlich einen Teil seines Sterbeprozesses dokumentiert. Zu dem Zeitpunkt wusste er ja auch schon, dass er diese Diagnose [Krebs, Anm. d. Red.] hat. Dementsprechend ist das einfach auch ein enorm emotional aufgeladenes Stück. Und trotzdem auch so wunderbar absurd. Und ich finde, das ist das Schönste eigentlich: wenn dann die Leute zu mir kommen im Foyer und sagen, „Es war so toll! Ich habe es nicht verstanden, aber es war so toll!“
Vielleicht kannst du mir etwas erklären, was mir hier am Theater in Kiel regelmäßig passiert. Wenn ich woanders im Theater bin, ist das natürlich auch nicht wie Filmschauen, aber ich habe es da sehr klar, dass da halt Dinge auf einer Bühne passieren. Hier, im Schauspielhaus, erreicht ihr mich viel stärker emotional und ich fühle mich involvierter. Vielleicht, weil ich euch kenne und schon seit Jahren begleite … kennst du das? Hast du da eine Theorie?
Ja, ich habe darüber auch schon lange nachgedacht. Meine Theorie ist folgende:: Wir haben hier in Kiel eine ganz, ganz große Gruppe an Schauspieler:innen, die schon sehr, sehr lange hier sind. Die kennen sich wahnsinnig gut. Die kennen sich auch in wahnsinnig vielen Facetten. Und die wissen auch sofort, auf welcher Arbeitsebene man sich trifft. Und das merkt man auch, wenn man mit jemandem mehrfach arbeitet, dass das einfach subtiler wird und auch persönlicher wird. Und auch die Vertrauensverhältnisse sind ganz, ganz eng bei uns.
Das heißt, wir gehen auch bei Spielentscheidungen ziemlich schnell ziemlich hohe Risiken ein, was man jetzt bei einem Menschen, der einem fremder ist, nicht tun würde. Das heißt, es gibt einfach eine ganz hohe Intimität in diesem Ensemble, die auch das Publikum erreicht.
Hast du da ein Beispiel, was „Risiko“ in dem Kontext heißt?
Zum Beispiel, wenn man Liebesszenen spielt und man sich sehr leidenschaftlich küsst oder man zieht sich Kleidung aus oder liegt zusammen in einem Bett oder auf einem Sofa oder vergleichbare Szenen.
Wenn wir die Kolleg:innen nicht kennen, mit denen diese körperlich nahen Situationen gespielt werden sollen, tasten wir uns erstmal an das Ganze heran. Man fragt sich vorher gegenseitig, ob es Bereiche gibt, die nicht angefasst werden sollen, was zu intim ist und was in Ordnung.
Wenn man sich aber schon kennt und auch solche Stücke zusammen gespielt hat, dann gibt es diese ganzen Fragezeichen und Unsicherheiten nicht und das gemeinsame Spiel wirkt freier.
Das heißt, man fängt an zu proben und man ist sofort auf so einem gemeinsamen Level. Und dadurch sind, glaube ich, auch alle grundsätzlich involvierter, weil man sich gut kennt, weil man sich so sehr vertraut.
Ich spiele sehr viel mit Marco Gebert zusammen. Bei ihm bin ich nie nervös, weil ich immer weiß: Egal was passiert, es ist wirklich vollkommen egal, was passiert, ich könnte von der Bühne fallen und Marco denkt sich irgendetwas aus.
Wenn diese Angstfaktoren wegfallen, sind alle so eng zusammen und so sensibel und so aufmerksam. Für mich als Spielerin ist das Gold wert, es macht ganz viel Spielfreude aus. Und ich glaube auch ganz viel Authentizität. Dass man ein Liebespaar glaubt, weil es tatsächlich eine echte Intimität gibt, anders als romantische Liebe, aber doch mehr als nur die Imitation derselbigen.
Wie entscheidest du, welche Rollen du spielen möchtest?
Ich entscheide das gar nicht.
… das heißt, da kommt dann Daniel Karasek und sagt: „Eva, ab morgen spielst du dies und das“?
Na ja, du kannst schon in die Dramaturgie laufen und sagen, „Boah, ich möchte unbedingt in diesem Stück mitspielen. Meine Traumrolle wäre dies und das.“ Das geht. Ob das tatsächlich berücksichtigt wird, liegt nicht in deiner Hand.
Dadurch, dass ich ja nicht im Schauspiel ausgebildet bin, ist es für mich tatsächlich auch oft so, dass, wenn der Spielplan veröffentlicht wird, ich erstmal denke: „Mhm, klingt interessant, kenn‘ ich nicht.“ Gerade bei vielen zeitgenössischen Stücken.
Und dementsprechend ruft dann irgendwann Daniel Karasek an und sagt, du spielst in dieser Spielzeit diese Rollen. Und ich sage, „Cool, vielen Dank. Und dann schaue ich nach, was das eigentlich ist.“
Es ist aber auch immer spannend, wenn man einfach eine Rolle bekommt und dann etwas draus machen muss. Du bekommst etwas und denkst, „Kann ich mir gar nicht vorstellen, wie ich das machen soll“, und trotzdem einen Weg findest. Vielleicht auch etwas zu spielen, bei dem du im ersten Moment gedacht hast: „Das kann ich nicht, das wird mir sehr unangenehm sein.“
Gibt es eine Rolle, die du fürchterlich gerne mal spielen würdest? Also, wenn du entscheiden dürftest, was gespielt wird, wenn Geld für Ausstattung und so weiter nicht wichtig wären … was würdest du spielen?
Das ist so eine Frage, die ich schon ein paar Mal gehört habe und ich kann sie nicht beantworten, aus dem schlichten und einfachen Grund, dass ich gelernt habe, dass die Rolle eigentlich nicht so relevant ist, wenn die Regie führende Person ein inspirierender Mensch ist. Dann kann man auch eine Miss Matz [in „Die Schlacht am Macki Creek“, Anm. d. Red.] spielen und trotzdem ist dieser Abend wahnsinnig reich.
Man geht immer davon aus, dass man sagt: „Ich möchte eine bestimmte Hauptrolle in meinem Leben gespielt haben.“ Ich arbeite auch wahnsinnig gern mit inspirierenden Menschen an Kleinigkeiten. Das ist schön. Es kann manchmal mehr Freude machen, als die größte Hauptrolle zu spielen, so einen Abend zu stemmen. Das ist ja auch das, wofür wir es machen. Wir nehmen ja viel in Kauf, um diesen Beruf ausüben zu können. Aber wenn dieser eine Punkt stimmt, dann ist es halt echt das ganze Leben.
Ich habe einfach durch meine Berufserfahrung gelernt, dass es toll ist, eine Hauptrolle zu spielen. Aber es kann auch sein, dass du am Ende keine positive Erinnerung davon hast, weil es keine Inspiration war, sondern ein Job.
Wie bereitest du dich auf deine Rollen vor und was ist der Unterschied, ob du dich auf „Kleiner Mann, was nun?“ oder „Diener zweier Herren“ vorbereitest?
Der Prozess variiert relativ stark. Was auf jeden Fall klar ist: Wenn man ein Stück macht wie „Kleiner Mann, was nun?“ oder „Homo Faber“, wo es eine Buchvorlage gibt, dann muss man die natürlich lesen.
Eine Sache, bei der man ein bisschen vorsichtig sein muss, ist bei anderen schauspielerischen Darstellungen dieser Figuren. Wenn man sich Filme anschaut, in denen das jemand vor dir gespielt hat, oder du in ein anderes Theater gehst und dir eine andere Inszenierung anschaust und dann die Person siehst, die deine Figur spielt, ist das gefährlich, weil man dazu neigt, es nachzumachen. Für mich ist es immer besser, es nicht nachmachen zu wollen, sondern meine eigene Variante davon zu finden. Und sich auch nicht einschüchtern zu lassen, weil irgendjemand es besonders gut macht.
Etwas, was mir besonders bei mir ist, ist, dass meine Figuren Gerüche haben: Ich habe für jede Figur, die ich spiele, ein Parfum. Weil ich gemerkt habe, dass mir das sehr hilft, in so einen Abend einzusteigen, weil die Figur eben verknüpft ist mit einem Parfum. Das heißt, wenn ich rieche wie Luise Miller, dann ist es leichter, mich in Luise Miller reinzuversetzen. Und auch wenn man dann geprobt hat mit diesem Parfum, dann ist das auch ein Automatismus – ich steige ein, ich steige aus. Entweder ich rieche nach Eva oder ich rieche nach Luise. Wenn ich Luise bin, ist das ein Sinneseindruck, der den ganzen Abend bleibt.
Und dann: Gerade, wenn die Autoren oder Autorinnen der verschiedenen Stücke besondere Biografien haben, ist es auch immer spannend, denn manchmal erkennt man dann bestimmte Dinge wieder. Zum Beispiel bei „Kleiner Mann, was nun?“ hat Fallada im Lämmchen so ein bisschen seine eigene Frau porträtiert. Und dann war es total spannend, vom echten Lämmchen etwas zu erfahren und zu sehen, wo kann man sich da vielleicht noch etwas ausleihen, was uns nützt.
Anders als an vielen anderen Theatern werden Stücke in Kiel ja meist über einen sehr langen Zeitraum gespielt. Das heißt, dass sich die Stücke auch überlagern. Wie schwierig ist es, von Rolle zu Rolle zu springen?
Es gelingt an manchen Tagen besser, an manchen weniger gut. Es kommt auch darauf an, was hintereinander gespielt wird. Aber jetzt gerade, zum Ende der Spielzeit, mit den Vorproben, die ich gerade mache, habe ich jetzt praktisch neun Stücke parallel. Das ist schon eine Menge.
Es gibt manche Sachen, die sind schwieriger, anstrengender. Vor allem, welche Komponente man hat. Wenn man jetzt zum Beispiel „Lazarus“ hat, ist es stimmlich eine ziemliche Herausforderung. Davor kann man jetzt nicht ein Stück gespielt haben, in dem man viel rumgebrüllt hat.
Oder man spielt „Diener zwei Herren“ und danach „Die Brücke von Mostar“ und danach wieder „Diener zwei Herren“. Das kommt einem dann seltsam vor, weil man solche Amplituden hat an Emotionen, die man dann verarbeitet.
Ich helfe mir dann, indem ich wirklich alles andere absage. Ich weiß, ich spiele so eine Strecke, wo ich dann einfach emotional so müde bin oder dieses Hochfahren und Runterfahren super schwierig wird durch diese verschiedenen Temperaturen der Stücke. Ich sage alles ab und ich sitze dann zu Hause und schreibe viel oder male oder sitze einfach nur auf dem Sofa. Der Versuch, jetzt nicht noch mehr Aufregung dazwischen zu packen, damit man halt dieses Rauf und Runter kommen, aber auch das Abschalten besser hinbekommt.
Aber wie gesagt, es funktioniert manchmal gut, manchmal weniger gut. Es ist jeden Tag anders und es gibt schlechte Tage und es gibt gute Tage. Und manchmal dient das eine dem anderen auch. Also, wenn man bestimmte zwei Stücke hintereinander spielt, dann merkt man, gestern haben wir eigentlich schon die Rampe genommen für heute, weil die Emotionen sich sehr gegenseitig unterstützt haben.
Emotionen sind ja ohnehin ein großes Thema beim Theater. Du musst die ja nicht nur selbst fühlen, sondern auch noch transportieren, so dass ich die in Reihe 16 auch noch mitbekomme. Wie gelingt es, Emotionen zu konservieren und heute in ein möglichst gleiches Gefühl zu kommen, wie bei der Aufführung vor zwei Wochen?
Das ist unmöglich. Ich habe das lange versucht, weil ich dachte, das ist wie ein Musical, ich muss es reproduzieren, exakt so, wie es vorher war. Ich bin ja mehr oder weniger Autodidakt, ich habe kaum Schauspielausbildung gehabt, ich habe also diese technischen Komponenten daran eigentlich nur sehr bruchstückhaft erfahren. Was wichtig ist, was ich gemerkt habe, als jemand, der es einfach macht, ist den Text möglichst gut parat zu haben, dass man auf der Bühne niemals über Text nachdenken muss. Und dann wirklich immer den Abend so zu nehmen, wie er kommt. Und es so zu spiegeln, wie er kommt. Und sich nicht vorzunehmen, an der Stelle weine ich. Oder an der Stelle bin ich jetzt wütend und werfe etwas an die Wand. Es sei denn, natürlich, die Regie sieht das explizit vor.
Aber – und das ist eine wahnsinnig schwierige Aufgabe – ich versuche immer alles zuzulassen. Wenn es gut läuft, schaffe ich das so 20 Minuten am Stück. Und dann fange ich zwischendurch an, mich wieder zu beobachten. Und das ist schlecht, dann muss ich da wieder raus. Aber im Bestfall gehe ich eigentlich blanko in die Szene rein und lasse mich von dem beeinflussen, was da ist.
Und ich weiß nicht, woran es gelegen hat, aber irgendwann habe ich tatsächlich angefangen, auf der Bühne dann auch tatsächlich zu weinen und das nicht hochzuatmen.
Das ist überhaupt so eine typische Frage: Können Schauspieler auf Knopfdruck weinen? Nein, können sie nicht, beziehungsweise ich kann es nicht. Aber es gibt halt so einen gewissen Modus, eine gewisse Offenheit, eine gewisse Transparenz, die man erreichen kann, wo dir das dann automatisch passiert. Und das fand ich eigentlich immer einen schönen Spielzustand, weil es den echten Gefühlen so nahekommt. Diese Höhe in einem Stück zu erreichen gelingt nicht immer, doch wenn es gelingt, ist es sehr schön und es kann alles passieren.
Es kann also ein ganz persönliches Erlebnis werden, so etwas zu spielen. Und tatsächlich, witzigerweise, ist das auch ein Selbstzustand, in dem man vergisst, dass man Angst hatte, etwas zu zeigen, was jetzt über 400 Menschen sehen. Was natürlich auch ein Zustand ist, den man sonst nur in seinen vier Wänden zulässt.
Und am Ende wird das vom Publikum auch nicht als Verwundung ausgelegt. Man macht kurz auf, man geht von der Bühne runter, macht wieder zu. Und das ist etwas, an dem arbeite ich natürlich. Also, dass sich diese Zustände verlängere. Dass ich sagen kann, ich kann das vielleicht auch mal den ganzen Abend machen, den ganzen Abend so transparent sein.
Ist das auch, was einen guten Schauspieler, eine gute Schauspielerin ausmacht?
Es gibt auch sehr tolle Kollegen und Kolleginnen, die nicht wollen, dass das so nah an sie herankommt. Das kann für das Publikum aber denselben Effekt haben. Man kann trotzdem glauben, dass dieser Mensch jetzt wirklich ernsthaft bewegt ist. Das geht schon auch.
Du bist jetzt ja schon ein paar Jahre dabei, hast jede Menge Rollen gespielt und hunderte Aufführungen hinter dir … hast du noch so etwas wie Lampenfieber? Zum einen vor Premieren, aber auch, wenn du zum sechsten, siebten, achten Mal „Lazarus“ spielst?
Das ist tatsächlich extrem unterschiedlich. Es gibt Stücke, wo ich mich echt zusammenreißen muss vorher und ganz viel Kaffee trinke, damit ich ruhig bleibe. Aber es kommt immer darauf an, was ich am Abend mache. Also zum Beispiel vor „Mackie Creek“ habe ich keine Angst, weil das so ein Stück ist, in dem ich keine Verantwortung trage. Mit meiner Performance steht und fällt der Abend auf gar keinen Fall.
Aber bei „Kabale und Liebe“, ich war zu Tode aufgeregt. Bei „Lazarus“ bin ich aufgeregt, wenn jemand im Publikum ist, dessen Meinung ich sehr schätze. Und zwar sofort, dann habe ich richtig einen Zitterer, wie früher in der Theater-AG.
Das wird zum Problem vor allem beim Singen. Wenn du aufgeregt bist, macht dein Körper Sachen, von denen du nicht wusstest, dass er sie machen kann. Das kannst du auch nicht üben. Das sind Adrenalin-Kicks, die dann was mit deinem Körper machen und du hast plötzlich keine Kontrolle mehr. Deswegen haben ja auch so viele Leute Angst vor dem Singen. Das ist unkalkulierbar.
„Lazarus“ zu singen, ist aber auch sehr schwer. Ich habe sehr viele Wochen vorher geübt, um diese Mischstimmen hinzukriegen. Was die Sache nicht besser gemacht hat, war, dass die Hauptdarstellerin in der Broadway-Fassung 14 Jahre alt gewesen ist. Ich habe die Aufnahme gehört und gesagt: „So, das war’s, ich geh’ jetzt nach Hause.“
Ich hätte jetzt gedacht, dass es unter Umständen sogar einfacher ist, Rollen zu spielen, die weiter von einem selbst weg sind …
Es ist schwierig zu sagen. Ich glaube, da sind Innen- und Außenwahrnehmung ganz unterschiedlich. Ich finde es spannend, eine Figur zu finden, die ganz weit weg von mir ist. Aber ich glaube, ich kann diese Figur nicht so gut spielen.
Sie sind nicht so überzeugend, weil sie weit weg sind von mir. Das ist eine interessante Arbeit, klar. Aber je näher sie an mir dran sind und je nachvollziehbarer ihre Probleme sind für mich, desto authentischer wird es und desto einfacher wird dieser Zustand von „Ich lasse mich beeinflussen von etwas, weil der Eva-Anteil so groß ist.“
Aber: Ich war als Kind ein wahnsinnig schüchterner Mensch und habe sehr wenig gesprochen. Ich habe dann später in der Theaterarbeit zum ersten Mal etwas sehr Lustiges entdeckt, und zwar, dass ich auf der Bühne für gewisse Zeit einen Freischein habe, Dinge zu tun, die ich als Privatperson nie tun würde. Also, dass ich mich auf der Bühne, vor hunderten Menschen, etwas traue, was ich selbst allein nie machen würde. Da gibt die Bühne dann Freiheit.
Wir haben ganz besonders in der Pandemie gemerkt, wie prekär viele Jobs im Kulturbetrieb sind. Und auch jetzt, wo wir mit mehreren Krisen zu tun haben, klagen viele über ausbleibendes Publikum. Hier in Kiel nehme ich das etwas anders wahr und sehe fast immer gut bis komplett gefüllte Säle …
Ja, wir sind in Kiel tatsächlich sehr privilegiert, was unsere Auslastung betrifft. Daniel Karasek hat neulich für seine Arbeit und die Leistungen hier einen Kulturpreis bekommen, der in der Elbphilharmonie verliehen worden ist. Da ist mir dann wieder so richtig bewusst geworden, dass wir tatsächlich eine bemerkenswert gute Nachfrage haben.
Tatsächlich ist es ja so, dass in ganz Deutschland eher Publikumsschwund zu verzeichnen ist, dass die Säle oft leer bleiben, was aber auch daran liegt, dass da so eine Bequemlichkeit besteht. Man hat Netflix zu Hause, man sitzt auf der Couch, isst Pizza, man kann das in Unterwäsche machen.
Wenn man ins Theater geht, muss man sich eine Karte kaufen, schön anziehen, dann dahin fahren, pünktlich sein. Man kann auch nicht einfach rausgehen, man muss sein Handy ausmachen, man muss da sitzen, man muss sich das echt komplett anschauen. Es ist eine recht umständliche Art, zu konsumieren. Man muss, glaube ich, auf den Geschmack kommen und ein lebendiges Ensemble, das nur dieses eine Mal und nur an diesem Abend auf diese Weise einen besonderen Abend kreiert, einem Film vorziehen, der eben statisch und wiederholbar ist.
Doch ich denke, dass ein Abend im Theater den Menschen länger in Erinnerung bleibt und mehr bewegt, als dass es eine 14. Folge der 8. Staffel einer Serie könnte. Und hier in Kiel, da haben wir viele Menschen, die diese besonderen Erinnerungen wertschätzen und auch für uns die Abende besonders machen.
Über die Schule ins Theater zu gehen, ist in der Regel für viele Schüler uninteressant. Weil sie ein Pflichtprogramm haben. Es sind ja auch meistens Stücke, die Inhalte haben, die mit ihnen und ihrem Alter eigentlich nichts zu tun haben.
Von der Redaktion empfohlener Inhalt
An dieser Stelle findest du einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Du kannst ihn dir mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an dritte übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Bei der „Brücke von Mostar“ haben wir eine Schulklasse auch da gehabt. Und da hat auch mal jemand gesagt: „Oh, wie toll, da werden mal junge Leute gezeigt, die in so einen Krieg hineingezogen werden. Und ich konnte mich damit identifizieren. Wir werden mal als jüngere Generation angesprochen und gezeigt.“
Und es gibt einfach wahnsinnig viele Stoffe, bei denen das nicht passiert. Gerade bei den Klassikern sind sehr schwierige Themen. Die sind oft auch sprachlich nicht einfach zu verstehen.
Und es gibt einfach auch sehr viele Stücke, die geschrieben werden und über die Uraufführung oder die Zweitaufführung nicht hinauskommen. Zeitgenössische Stücke haben es immer noch schwer in meinen Augen. Und das ist, glaube ich, dasselbe Problem wie bei der Oper auch. Ich habe persönlich das Gefühl, es fehlt so ein bisschen an dem Willen, sich selbst neu zu begreifen und zu erneuern.
Und Corona kam ja plötzlich diese Virtual-Reality-Schiene auf … ich glaube, Augsburg hat das gemacht bei „Orpheus in der Unterwelt“. Da hatten sie einen Part im Stück, wo die Leute unter ihrem Sitz eine VR-Brille hatten, die Brille aufgesetzt haben und dann in der virtuellen Realität mit in die Unterwelt gegangen sind.
Und das ist natürlich eine neue theatrale Möglichkeit. Dafür interessieren sich viele Häuser noch nicht, weil es wahnsinnig aufwendig ist. Wo ich mir aber denke: hey Leute, da ist etwas Neues gefunden worden. Lasst uns das doch ausprobieren. Lasst uns damit experimentieren und gucken, was man damit machen kann. Weil ich glaube, wenn das Theater sich offen in solche Richtungen weiterentwickelt, dann ist das eine Chance, wieder jüngere Leute anzuziehen, mit Stoffen, die sie ansprechen. Es ist natürlich aber auch riskant.
Viele Häuser haben auch mit dem Gedanken geliebäugelt, einfach viel mehr Musikstücke auf die Pläne zu stellen oder Komödien. Weil die Leute das jetzt gerade, wo wir so viele Krisen erleben, eher Unterhaltung haben möchten. Aber ich halte das eigentlich nicht für den richtigen Weg. Ich glaube auch, dass auch die ernsten Stoffe wichtig sind und genauso viel Freude machen.
Aber kann Netflix wirklich ein Ersatz fürs Theater sein?
Na ja, erst mal: Das Theater wird durch seine theatralen Mittel ja zu einem sinnlichen Erlebnis. Ich liebe zum Beispiel Bühnennebel! Und das ist natürlich etwas, das kannst du zu Hause nie haben, mit einem Film, dass du da wirklich im Nebel sitzt.
Ich habe das als Kind auch total gerne gemocht, wenn Schauspieler:innen ins Publikum gehen und man merkt, wie einmal das Kostüm so an dir entlang streift. Das fand ich toll. Das war auf eine ganz andere Art authentisch.
Und auch, dass man die Fantasie so anregen muss. Da ist kein echtes Pferd auf der Bühne. Wir zitieren ein Pferd, aber es ist keins da. Und du musst das dann im Kopf weiterdenken. Das dachte ich zum Beispiel bei „Kohlhaas“. Auch eine Herzensinszenierung von mir! Wo sie genau das gemacht haben. Ich mein, dieses Stück dreht sich eben um diese Pferde. Und einfach zu sehen, wie dieser Versuch stattfindet, dieses Pferd auf die Bühne zu bringen, ist einfach schön.
Für mich ist so ein Element auch, wenn Schauspieler:innen schon auf der Bühne warten. Also die Türen gehen auf, das Publikum kommt rein und da sind dann schon Menschen und machen irgendetwas auf der Bühne. Marko Gebbert, der vor Beginn von „Lazarus“ da schon auf der Bühne liegt, zum Beispiel.
Ja, es ist tatsächlich von der anderen Seite auch schön. Bei „Die Brücke von Mostar“ machen wir das ja auch. Da sitzen wir auf der Treppe, schon 10 Minuten bevor es losgeht. Und es ist tatsächlich auch schön, dass man so die Ruhe hat, einfach mal zurückzugucken. Du bist nicht mit der Szene beschäftigt, weil die noch nicht läuft, sondern du bist dabei, das Publikum wahrzunehmen. Dafür hat man im Stück prinzipiell erst mal keine Zeit. Und das ist etwas, das ich sehr mag. Dass es so eine Ruhephase gibt, bevor dann der ganze Tumult losbricht.
Was sind andere Theater-Tricks, die du gerne magst?
Ich weiß, das ist für den theatralen Effekt meistens schrecklich. Aber ich liebe Kunstpausen, die so richtig unangenehm sind! Bei „Kleiner Mann“ hatten wir das ja auch, ganz am Ende, wo er dann da steht und in sich zusammenfällt. Und ich mir so wahnsinnig viel Zeit für den Endtext genommen habe.
Das holt mich auch sehr ab und erzeugt in mir so eine irrationale Spannung …
Was passiert jetzt?!
Ja, oder auch: Jetzt müsste die doch was sagen? Gehört das noch dazu?
Ist das ein Texthänger? Wer weiß?
Ja, man muss das aushalten und es gibt – ich nenne das gerne so – „laute Pausen“. Pausen, wo man zum Beispiel ein Streitgespräch spielt und plötzlich schweigen beide. Und man merkt, der eine würde jetzt einfach gerne sagen „Ich will dich nie wiedersehen!“ Aber es wird nicht gesagt.
Und ich finde das manchmal viel stärker, dass man diesen wahnsinnig lauten Subtext hört und auch nicht hört.
Eine ganz andere Form der lauten Pause, die ich ganz unangenehm auszuhalten fand, war bei den Webern, wo quasi zum Schluss minutenlang nur geschossen wird.
Es war auch total spannend, gerade bei „Die Weber“, dass da immer irgendetwas passiert ist im Zuschauerraum. Irgendjemand hat das nicht ausgehalten. Hat reingeklatscht, hat reingerufen. Es gab ganz viele Leute, die das nicht abwarten konnten, bis das aufhört. Da gab es viele Leute, die auch ein bisschen empört waren, dass man das so breit macht. Einmal war ein Zuschauer da, der hat wirklich geschrien: „Ja, wir haben es kapiert! Wir haben es kapiert!“
Oder auch: Ich habe mit dem Mädchen praktisch den letzten Moment gehabt, mit diesem Tanz, mit dem Lied. Und dass die Leute unbedingt vor dem Black klatschen müssen, wo die ganzen Leichen noch da liegen. Die Leute gehen automatisch, wenn es keinen Anschluss gibt, davon aus, dass das Stück jetzt zu Ende ist.
Und die Verabredung ist ja eigentlich immer: Erst, wenn es dunkel wird, ist es vorbei. Und das halten die nicht aus. Es gibt ganz viel Publikum, dass das nicht aushält, jetzt mal kurz warten zu müssen auf etwas, was eben nicht sofort eintritt.
Ich kann schon verstehen, dass das so eine Spannung erzeugt und sich da auch beim Publikum etwas aufstaut, das dann irgendwie raus muss. Sei’s durch Klatschen oder eben durch irgendetwas anderes. Ist das etwas, was ihr bewusst einsetzt? Wollt ihr diese Reaktionen?
Ja, ich glaube, es war schon in gewisser Weise eine Absicht. Wir haben beschlossen, dass wir diese Schusssequenz wirklich rauszögern bis zum „Geht nicht mehr“, bis möglichst ganz große Pausen sind zwischen den Schüssen.
Und ich meine auch, dass am Ende alle getötet worden sind, ist natürlich auch ein Bild, das wahnsinnig stillsteht. Da ist keine Bewegung mehr. Es ist nur ein Eindruck, es ist keine Erzählung.
Aber deshalb haben wir am Ende auch noch diesen Tanz eingebracht, wo wir ja auch die Frauenbewegung im Iran zitiert haben. Weil man dann auch die Referenz ziehen möchte, zu sagen, es gibt immer noch Aufstände, die finden immer noch statt. Wir haben jetzt hier von den Webern gesprochen, aber es passiert auf der ganzen Welt, es passiert täglich.
Ich bemerke da aber auch immer noch eine andere Emotionalität. Denn: Ja, natürlich, ich habe verstanden: Die sind jetzt alle gestorben. Damit kann ich abschließen und rausgehen aus dem Theater. Aber wenn das so hinausgezögert wird und einem das Leid noch mal so gewahr wird … da fühle ich mich alleingelassen. Und das ist bei „Kleiner Mann“ ähnlich. Da sprichst du zwar zum Schluss noch, aber da fühle ich mich irgendwie alleine.
Wir sind es ja auch einfach so gewohnt, dass keine Pausen eintreten. Schnitte in so Blockbuster-Filmen werden ja auch immer kürzer. Also, dass wir in der Regel Szenenausschnitte nur so drei, vier Sekunden anschauen und dann gibt’s einen Schnitt und dann gibt’s das nächste Bild. Und diese Schnitte sind immer enger geworden, unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer, weil wir dieses Tempo gewohnt sind.
Und auch wenn wir mal irgendwo warten müssen: Wir ziehen sofort das Handy raus und daddeln da irgendwelche Videos, anstatt uns einfach mal wirklich aktiv zu langweilen und auch mal die Stille auszuhalten. Wir trainieren uns das ab. Das ist sicher auch ein Faktor, warum wir das dann vielleicht auch so intensiv wahrnehmen, dieser Stillstand. Und im Theater kannst du das Handy nicht herausnehmen, du musst es wirklich über dich ergehen lassen.
Jetzt hast du vorhin Netflix und Film ins Spiel gebracht. Wäre das etwas für dich oder bist auf der echten Bühne glücklich und brauchst das nicht?
ich bin schon dem Theater verbunden, mit Herz und Seele, das muss ich schon sagen. Allein aus den zwei simplen Gründen, dass wir nichts konservieren. Es ist etwas, das erlebt man für einen Abend, dann verfliegt es wieder. Am Tag darauf wird es nicht die gleiche Vorstellung sein. Sie werden sich gleichen, aber sie werden nicht identisch passieren. Und das ist schön.
Wenn man Filme macht, dreht man in der Regel nicht in chronologischer Reihenfolge. Das heißt, man bekommt nicht die Chance, eine Reise über einen Abend zu machen. Sondern über mehrere Wochen bekommst du immer mal wieder so einen Fitzel und dann hier noch einen Fitzel. Und manchmal drehst du Szenen hintereinander, die im Film ewig weit auseinander liegen. Ich glaube, dafür muss man echt ein Talent haben, aus dem Kalten und ohne Anlauf so eine Geschichte nachvollziehen zu können.
Auch sind Kameras so … unsensible Szenenteilnehmer. Die sind ja so ein Stellvertreter für eine Menge Augen. Kameras sind wahnsinnig undankbare gegenwärtige Dinge. Ich bin froh, wenn sie nicht da sind.
Ich möchte mich selbst auch nicht auf dem Screen sehen und ich glaube, wenn man Filme dreht, muss man damit anfangen.
Das Einzige, wo ich sage, da würde ich mich hinreißen lassen, das mal auszuprobieren, ist einfach, weil man da wesentlich mehr Geld bekommt. Man verdient als Theaterschauspielerin jetzt nicht so, dass man am Existenzminimum kratzt, aber man wird auf jeden Fall auch nicht großartig Geld verdienen in seinem Leben. Es sei denn, man ist vielleicht Lina Beckmann. Ich weiß nicht, was sie bekommt, aber solange man so etwas macht, wie ich jetzt hier, ist es auf jeden Fall … man kann gut davon leben, wenn man kein Auto hat und wenn man jetzt auch nicht zweimal groß in den Urlaub fliegen möchte im Jahr. Dann geht das. Es ist jetzt sehr unromantisch, das zu sagen, aber Geld ist auf jeden Fall auch ein Faktor in dieser Branche.
Es gibt ja Schauspieler:innen, die vor allem am Theater sind und trotzdem, unterstelle ich mal, krass viel Geld bekommen. So ein Lars Eidinger zum Beispiel. Menschen, die es geschafft haben, die solche Größen sind, wie ist da deine Erfahrung? Sind das tatsächlich immer die Besten, der Besten, der Besten oder ist da einfach auch wahnsinnig viel Glück dabei?
Es ist ganz viel Glück dabei! Ich habe viele Leute in den letzten paar Jahren getroffen, auch in der Musicalbranche, die extrem talentiert sind und ganz, ganz tolle Sachen machen, aber die aus irgendwelchen Gründen nicht in einen allgemeinen Geschmack passen und dadurch die Chance nicht bekommen. Ich glaube, es ist auch ganz viel zur richtigen Zeit, die richtigen Menschen zu treffen. Als ich hier ankam, war ich ein richtiges Knäckebrot auf der Bühne. Das, was ich heute gelernt habe, an Schauspielerei, das ging nur, weil man mir die Chance gegeben hat. Und die Chance habe ich bekommen, weil ich singen konnte. Das wäre sonst gar nicht passiert. Es hätte niemanden interessiert, wie ich gespielt hätte, ohne das Singen.
Was denken Menschen über das Theater, was nicht stimmt?
Ich glaube gerade das Klischee von Schauspieler:innen, dass wir so exzessiv leben und ausschweifen, sehr wild sind. Das stimmt gar nicht. Wir sind zum Teil wirklich sehr ruhige Personen. Ich bin auch, glaube ich, privat ein eher langweiliger Mensch.
Was viele Leute auch wahnsinnig interessiert, ist so etwas wie Method Acting. Also, versucht man die Person zu werden, die man spielt? Im Repertoire-Theater, was wir hier machen, geht das überhaupt nicht, weil wir so viele verschiedene Sachen spielen. Wir können da nicht jedes Mal die Person werden, die wir spielen.
Da müssen wir uns einfach anders annähern. Die Leute denken, wir stecken die Hand in den Ameisenhaufen, um zu fühlen, wie es brennt – aber es muss reichen, dass wir uns vorstellen, wie es sein könnte, die Hand in den Ameisenhaufen zu stecken.
Auch so ein Klischee, das ich sehr lustig finde: vormittags frei, entspannt in der Sonne liegen und abends noch schnell eine Vorstellung spielen. Manchen Leuten scheint nicht bewusst zu sein, was für ein Arbeitsaufwand das ist, Stücke zu erarbeiten und dann spielbar zu machen. Und viele denken auch, das sei immer Spaß für alle.
Wie viel Freizeit hat man denn so?
Das ist tatsächlich sehr wechselhaft, je nachdem, was für Rollen man hat. Ich hatte zuletzt sehr wenig Freizeit. Aber es gibt tatsächlich Phasen, wenn man kleine Rollen spielt, in denen man viele Vormittage freihat und nur abends kommt. Aber wenn man groß besetzt ist, dann ist es auch wirklich sehr, sehr viel Arbeit. Dann sitzt man auch noch um 23 Uhr, 24 Uhr zu Hause und lernt Text, der am nächsten Morgen um 10 sitzen muss, nachdem man von morgens bis nachmittags bei Proben oder Wiederaufnahmen war.
Man muss viel Privatleben aufgeben. Ich habe auch nebenher wenig Hobbys, bei denen ich andere Menschen sehe. Ich würde so gerne mal einen Standard-Tanzkurs machen. Kann ich aber nicht, weil die Erwachsenenkurse immer abends sind. Wenn die Leute dahingehen, gehe ich gerade erst arbeiten.
Gibt es etwas, das die Menschen dringend mal übers Theater, über das Schauspieler:innen-Leben hören sollten?
Eine Sache, über die ich immer wieder nachgedacht habe: Während Corona kam ja immer wieder die Frage auf, ob wir Kultur überhaupt brauchen. Also die Frage nach der Daseinsberechtigung. Ist das wichtig, dass das staatlich unterstützt wird, dass das erhalten wird? Ist das vielleicht auch eine überholte Institution?
Ich habe damals in der „Zeit“ einen ganz schönen Artikel gelesen. Da war die Aussage, dass die Kulturbranche ein ganz wichtiges Bindeglied ist zwischen dem, wo unsere Gesellschaft steht, und den Menschen. Dass man das, was wir wissen und was wir diskutieren und die Zahlen, die wir kennen, emotional erfahrbar macht. Denn diese emotionale Erfahrung ist oft der Grund, weshalb Menschen überhaupt Empathie entwickeln für ein Problem, das sie eigentlich nicht betrifft.
Das fand ich sehr schön, das auch als meine eigene Aufgabe in der Arbeit zu begreifen: Es geht nicht darum, berühmt zu werden, es geht nicht darum, großes Geld zu haben, beklatscht zu werden, in irgendeiner Form Prestige zu haben oder besonders ausgebreitet zu leben, sondern es geht darum, dass wir dieses Bindeglied sind und versuchen, das einzufangen und in unseren Möglichkeiten uns damit beschäftigen, das weiterzugeben.
Deswegen hoffe ich auch, dass das Theater lange lebt, dass die Leute auch in ganz Deutschland wieder zurückfinden, in die Säle.
Eva Kewer, vielen Dank!
Das Interview führte Sebastian Schack. Die Antworten wurden teilweise für eine bessere Lesbarkeit redigiert, ohne sie inhaltlich zu verändern.