- Anna (Yvonne Ruprecht) und Otto Quangel (Immanuel Humm) entscheiden nach dem Tod ihres Sohnes an der Front, dass es an der Zeit ist, etwas gegen das Nazi-Regime zu unternehmen. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Mit „Jeder stirbt für sich allein“ startete das Theater Kiel am gestrigen Abend mit einem düsteren Stück über den Widerstand des Ehepaars Quangel gegen das Naziregime im Berlin der 1940er-Jahre in die neue Spielzeit.
Hans Fallada, geboren 1893 in Greifswald, war einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und zugleich eine tragische Figur. Sein Leben war geprägt von persönlichen Krisen, Suchterkrankungen und den politischen Verwerfungen seiner Zeit. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch 1911, bei dem sein Freund starb, verbrachte Fallada mehrere Jahre in psychiatrischen Kliniken.
Die Zeit der Weimarer Republik brachte Fallada schriftstellerischen Erfolg: Mit „Kleiner Mann – was nun?" (1932) gelang ihm der internationale Durchbruch. Seine Werke werden der Neuen Sachlichkeit zugerechnet und zeichnen sich durch einen objektiv-nüchternen Stil aus, der das Leben der kleinen Leute eindringlich schildert.
Während der NS-Zeit befand sich Fallada in einer prekären Lage. Er war kein überzeugter Nazi, musste aber als Schriftsteller überleben. Diese ambivalente Haltung führte dazu, dass er einerseits im Auftrag des Propagandaministeriums schrieb, andererseits aber auch kritische Werke verfasste.
„Jeder stirbt für sich allein" entstand Ende 1946 in nur vier Wochen und war Falladas letzter Roman – er starb am 5. Februar 1947. Das Werk fügt sich als späte Krönung in sein Lebenswerk ein und zeigt Fallada noch einmal auf der Höhe seiner erzählerischen Kraft. Es ist bemerkenswert, dass gerade dieser schwermütige, von Drogen gezeichnete Autor am Ende seines Lebens sein vielleicht wichtigstes Werk schuf.
Die Geschichte der Quangels – Stille Rebellion gegen die Übermacht
Das Stück spielt im Berlin der Jahre 1940 bis 1942, als das Nazi-Regime seinen Höhepunkt erreicht hatte und zugleich die ersten Risse im System sichtbar wurden. Es war eine Zeit der allgegenwärtigen Angst, in der Denunziation zum Alltag gehörte und jeder Nachbar zum Spitzel werden konnte. Die Gestapo hatte ein perfides System der Überwachung und Einschüchterung etabliert, das jeden Widerstand im Keim zu ersticken schien.
Fallada stützte sich bei seinem Roman auf authentische Gestapo-Akten. Diese dokumentarische Grundlage verleiht dem Werk eine besondere Authentizität und macht es zu einem wertvollen historischen Zeugnis.
Die Handlung folgt dem Berliner Arbeiterehepaar Otto und Anna Quangel (gespielt von Immanuel Humm und Yvonne Ruprecht), das nach dem Tod ihres einzigen Sohnes im Westfeldzug zu Gegnern des Nazi-Regimes wird. Zunächst unauffällige Mitläufer, beginnen sie nach dieser persönlichen Tragödie, handgeschriebene Postkarten mit regimekritischen Botschaften zu verfassen und in Berliner Treppenhäusern zu verteilen.
Ihre Hoffnung ist naiv und rührend zugleich: Sie träumen davon, dass sich ihre Botschaften wie ein Lauffeuer verbreiten und schließlich zum Sturz Hitlers beitragen werden. Doch die Realität ist ernüchternd – die meisten ihrer etwa 200 Karten werden sofort an die Behörden weitergeleitet. Nach zweijähriger Fahndung werden die Hampels – so hießen die realen Vorbilder – 1942 denunziert und verhaftet. Am 8. April 1943 werden beide in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Das Stück zeigt nicht nur die Geschichte der Quangels, sondern entfaltet ein ganzes Panorama der Berliner Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus: Denunzianten wie Barkhausen (Marius Borghoff), linientreue Nazis wie Persicke (Marko Gebbert), die verfolgte Jüdin Rosenthal (Ellen Dorn) und viele andere bilden ein vielschichtiges Gesellschaftsbild.
Beeindruckende Atmosphäre des Schreckens
Die Kieler Premiere am gestrigen Abend war ein Ereignis von beeindruckender Dichte und emotionaler Wucht. Regisseur Jonathan Heidorn, der gleichzeitig für das Sounddesign verantwortlich zeichnete, gelang es gemeinsam mit Dramaturg Tristan Benzmüller von der ersten Minute an, eine Atmosphäre der Bedrohung und Beklemmung zu schaffen.
Das karge Bühnenbild von Florence Schreiber trug maßgeblich zur düsteren Grundstimmung bei. Große metallische Treppen auf der linken Seite verwandelten sich je nach Szene von Wohnhäusern in das gefürchtete Gestapo-Hauptquartier. Im Hintergrund dominierte eine riesige Berlin-Karte, auf der Kommissar Escherich (Philipp von Schön-Angerer) mit roten Fähnchen die im gemeldeten Ablageorte der Protestkarten der Quangels markiert hat. Am rechten Bühnenrand sind zwei Stühle und ein kleiner Tisch der Rückzugsort, die Wohnung der Quangels.
Das Schauspielensemble lieferte durchweg großartige Leistungen ab. Immanuel Humm als Otto und Yvonne Ruprecht als Anna Quangel bildeten das emotionale Zentrum des Stücks. Humm gelang es, die Wandlung vom sturen Arbeiter zum stillen Widerstandskämpfer glaubhaft zu verkörpern, während Ruprecht die innere Zerrissenheit einer Frau zwischen Angst und Pflichtgefühl eindringlich darstellte.
Besonders beeindruckend war daneben Philipp von Schön-Angerer als Kommissar Escherich, der die Kaltblütigkeit der Gestapo ebenso glaubhaft zu transportieren wusste, wie das späte Zweifeln am System. Die gesamte Gestapo-Riege, allen voran Marko Gebbert als Obergruppenführer Prall, sorgte mit ihren Gewaltausbrüchen für Momente echter Bedrängnis im Zuschauerraum.
Zu loben sind aber weniger einzelne, als vielmehr das gesamte Ensemble, auch, weil die meisten Schauspieler:innen gleich in mehreren Rollen agierten und die Wandlungen zwischen den verschiedenen Charakteren nicht nur nahtlos gelangen, sondern immens zur Vielschichtigkeit der Inszenierung beitrugen.
Die Inszenierung nahm sich in der ersten Hälfte bewusst Zeit, um die Figuren zu etablieren und die allgegenwärtige Bedrohlichkeit des Systems zu verdeutlichen. In der zweiten Hälfte gewann das Stück merklich an Fahrt und steuerte unaufhaltsam auf den tragischen Höhepunkt zu. Als besonders wirkungsvoll erwies sich die Entscheidung, die Grausamkeit des Regimes vor allem im Nicht-Gezeigten zu belassen – die erzählte Gewalt wirkte oft noch bedrückender als jede explizite Darstellung.
Bereits in der Pause war die Wirkung des Stücks auf das Publikum spürbar. Viele Zuschauer:innen wirkten sichtlich bewegt und bedrückt von dem Gesehenen.
Ein wichtiges Zeichen, auch für die heutige Zeit
In einer Zeit, in der demokratische Werte wieder unter Druck geraten, erweist sich diese Inszenierung als hochaktuell und notwendig. Sie erinnert daran, dass Widerstand oft von den unscheinbarsten Menschen ausgeht und auch kleine Gesten des Protests ihren Wert haben – selbst wenn sie scheinbar erfolglos bleiben.
Die Kieler Aufführung von „Jeder stirbt für sich allein" ist mehr als nur eine Theateraufführung – sie ist ein eindringliches Mahnmal gegen das Vergessen und ein Appell für Zivilcourage. Das Theater Kiel hat mit dieser Produktion ein wichtiges Zeichen gesetzt und bewiesen, dass Falladas zeitloses Werk auch heute noch seine volle Wirkungskraft entfalten kann.
Wer das Stück selbst erleben möchte, hat dazu noch an diversen Terminen bis in den März 2026 die Gelegenheit. Tickets gibt es online unter theater-kiel.de, telefonisch unter 0431 – 901 901 sowie an den Vorverkaufsstellen des Schauspielhauses.