- Tiffany Köberich als Tessa Ensler. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
- Tiffany Köberich als Tessa Ensler. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
- Tiffany Köberich als Tessa Ensler. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Manchmal gibt es diese Theaterabende, die einen noch Stunden später nicht loslassen. Die Premiere von „Prima Facie“ gestern Abend im Schauspielhaus war genau so ein Moment. Was Regisseurin Mona Kraushaar und vor allem Tiffany Köberich in der Hauptrolle auf die Bühne gebracht haben, ist ein theatralisches Meisterwerk – intensiv, verstörend, unfassbar eindringlich.
Eigentlich ist alles, was du über diesen Theaterabend wissen musst, in einem Satz gesagt: Noch bevor das Licht am Ende des Stücks ausging, brach das Publikum in tosenden Applaus aus, noch bevor Tiffany Köberich den Weg zurück auf die Bühne fand, um ihn entgegenzunehmen, stand jede einzelne Person im Saal. Wer es doch lieber etwas detaillierter hätte, ist herzlich eingeladen, weiterzulesen.
„Prima Facie“ – der Titel bedeutet „auf den ersten Blick“ – ist ein internationaler Welterfolg, der seit seiner Uraufführung 2019 in Sydney die Theaterwelt im Sturm erobert hat. Die australische Autorin Suzie Miller, selbst ehemalige Strafverteidigerin, hat mit diesem Stück einen Nerv getroffen. Nach dem triumphalen Erfolg im Londoner West End 2022, wo Jodie Comer für ihre Interpretation den Olivier Award als beste Schauspielerin gewann, und dem anschließenden Tony Award am Broadway wurde das Stück in Dutzenden Ländern lizenziert.
Miller erzählt die Geschichte von Tessa Ensler, einer brillanten Anwältin, die sich darauf spezialisiert hat, Männer zu verteidigen, die sexueller Gewalt beschuldigt werden. Tessa ist gut in ihrem Job – verdammt gut sogar. Sie glaubt an das Rechtssystem. Sie liebt das Spiel, den Nervenkitzel der Kreuzverhöre, die Siege vor Gericht. Bis zu dem Abend, an dem sie selbst Opfer einer Vergewaltigung durch einen Kollegen wird.
Was folgt, ist eine schonungslose Auseinandersetzung mit einem Justizsystem, das – so zeigt es Miller mit chirurgischer Präzision – nicht für Opfer sexueller Gewalt gemacht wurde. Tessa, die brillante Juristin, die jede Schwachstelle in einer Zeugenaussage aufspüren kann, muss erleben, wie genau diese Methoden nun gegen sie angewendet werden. Sie kennt alle Tricks, alle Fallen – und fällt trotzdem hinein.
Tiffany Köberich als Tessa Ensler. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Eine Rolle, eine Schauspielerin, 100 Minuten pure Intensität
Tiffany Köberich trägt diesen Abend (zumindest auf der Bühne) komplett allein. 100 Minuten ohne Pause, ohne Netz, ohne doppelten Boden. Und sie trägt ihn mit einer Präsenz, die einen von der ersten Sekunde an packt und nicht mehr loslässt. Ihre Darstellung der Tessa Ensler ist ein schauspielerisches Ausrufezeichen, das niemand im Saal so schnell nicht vergessen wird.
Köberich beginnt als diese selbstbewusste, fast arrogante Strafverteidigerin, die durch die Gerichtssäle wirbelt, wie eine Raubkatze auf der Jagd. Man spürt ihre Energie, ihren Hunger nach Erfolg. Und dann – nach dem Bruch, nach der Gewalt, die ihr widerfährt – verwandelt sie sich vor den Augen des Publikums. Köberich zeigt uns eine Frau, die zerbricht, die kämpft, die sich auflehnt gegen ein System, das sie im Stich lässt. Die Art, wie sie zwischen den verschiedenen Ebenen und Zeitschienen wechselt, zeugt dabei von beeindruckender Wandlungsfähigkeit und emotionaler Tiefe. Man nimmt ihr alles ab – jede Träne, jeden Moment der Wut und der Verzweiflung.
Mona Kraushaar, am Theater Kiel keine Unbekannte, hat nach ihren erfolgreichen Inszenierungen von „Spieltrieb“ und „Maria“ nun ihre dritte Arbeit am Haus vorgelegt – und was für eine. Die in Düsseldorf geborene Regisseurin versteht es, die Kraft dieses Textes auf die Bühne zu bringen, ohne ihn zu überladen. Die Ausstattung von Nina Sievers schafft dazu einen Raum, der gleichzeitig Gerichtssaal, Büro und innere Landschaft ist. Daniel Jaegers Lichtgestaltung ist fast schon ein eigener Erzählstrang, der die Stimmungen pointiert unterstützt, von der gleißenden Helligkeit des Erfolgs bis in die düsteren Abgründe der Traumatisierung.
Dramaturgin Kerstin Daiber, hat gemeinsam mit dem Team ein Stück auf die Bühne gebracht, das in seiner Relevanz für die heutige Zeit kaum zu überschätzen ist. Das Theater Kiel hat sich für diese Produktion klugerweise juristischen Sachverstand von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel geliehen – eine sinnvolle Entscheidung, denn „Prima Facie" ist hochpolitisch, hochbrisant und stellt unbequeme Fragen an das Rechtssystem, in dem Ensler zu beginn des Stücks so brilliert.
Tiffany Köberich als Tessa Ensler. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Von #MeToo zur deutschen Realität
Man kann „Prima Facie“ nicht sehen, ohne an die #MeToo-Bewegung zu denken, die seit Oktober 2017 die Welt verändert hat. Was als Hashtag in den sozialen Medien begann – angestoßen bereits 2006 von der afroamerikanischen Aktivistin Tarana Burke – entwickelte sich zu einer globalen Bewegung, die Millionen von Frauen eine Stimme gab.
In Deutschland hatte #MeToo seine Vorläufer: Bereits 2013 teilten Frauen unter #Aufschrei ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexuellen Übergriffen. Doch erst #MeToo entfachte eine nachhaltige gesellschaftliche Debatte.
Die rechtliche Realität in Deutschland unterstreicht, wie wichtig Stücke wie „Prima Facie“ sind: Erst 2016 wurde das deutsche Sexualstrafrecht grundlegend reformiert. Das neue „Nein heißt Nein“-Prinzip ersetzte das alte Gesetz, das Zwang als notwendige Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung forderte. Diese Reform kam nach einer Reihe von Fällen, die öffentliche Empörung auslösten – darunter die Silvesternacht 2015/2016 in Köln. Trotzdem bleiben die Herausforderungen immens: Die Verurteilungsrate bei Sexualdelikten ist erschreckend niedrig.
Genau hier setzt „Prima Facie“ an: Es zeigt nicht nur die juristische Realität, sondern auch die emotionale und psychologische Last, die Betroffene tragen müssen.
Suzie Millers Stück ist mehr als nur Theater – es ist ein Instrument gesellschaftlichen Wandels. 2019 lud Miller australische Richterinnen, Anwältinnen und Politikerinnen zu einer speziellen Vorstellung ein. Die dreistündige Diskussion danach zeigte, wie dringend notwendig diese Auseinandersetzung ist; ganz bestimmt nicht nur in Australien. In Großbritannien etwa hat es sogar zu einem neuen Leitfaden für Mitglieder von Jurys in Fällen sexueller Gewalt geführt.
Ein Abend, der nachhallt
Was gestern Abend im Schauspielhaus stattfand, war großes Theater im besten Sinne: Es hat berührt, erschüttert, wütend gemacht und zum Nachdenken gezwungen. „Prima Facie“ ist kein leichter Theaterabend. Es ist ein Stück, das verstört, das schmerzt, das unbequeme Wahrheiten ausspricht. Aber es ist auch ein Stück, das dringend notwendig ist. Es zeigt, dass Theater mehr sein kann als Unterhaltung: Es kann aufklären, aufrütteln, verändern.
Wie Tessa zum Ende des Stücks sagt: „Ich bin zerbrochen. Aber ich bin noch da“. Und genau diese Botschaft – von Überleben, von Widerstand, von der Forderung nach Veränderung – hallt noch lange nach.
Wer sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen möchte, hat dazu noch die Gelegenheit an vier weiteren Abenden in diesem Jahr, nämlich am 1. und 28. November sowie am 4. und 21. Dezember. Sollte das Publikum an diesen Abenden ebenso frenetisch reagieren wie nach der Premiere, ist aber sicherlich nicht auszuschließen, dass im kommenden Jahr weitere Termine hinzukommen.
Tickets gibt es wie immer auf theater-kiel.de, telefonisch unter 0431 – 901 901 und an allen Vorverkaufskassen des Theaters.