- (Bild: Theater Kiel, Olaf Struck)
- Vor Gericht: Elizabeth Proctor (Isabel Baumert) ist der Hexerei beschuldigt und auch ihr Mann John (Rudi Hindenburg, 3. v. l.) steht im Verdacht, gemeinsame Sache mit dem Teufel zu machen. (Bild: Theater Kiel, Olaf Struck)
- John Proctor (Rudi Hindenburg) ist einer der wenigen, die noch bei Verstand sind in Salem. Ein falsches Geständnis will er nicht ablegen, sondern lieber seine Würde bewahren – dafür zahlt er einen hohen Preis. (Bild: Theater Kiel, Olaf Struck)
In einer Welt, die zwischen moralischer Rigidität und befreiender Selbstentfaltung oszilliert, entfaltet Jana Milena Polaseks Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ am Kieler Schauspielhaus ihre ungebrochene Sprengkraft.
Was als nächtliches Ritual junger Mädchen beginnt, entwickelt sich zu einem Lehrstück über die Zerbrechlichkeit menschlicher Zivilisation – eine Thematik, die seit der Uraufführung 1953 nichts von ihrer Dringlichkeit verloren hat.
Millers Drama verwebt geschickt zwei historische Ebenen: Die historischen Hexenprozesse von Salem 1692, bei denen 20 Menschen hingerichtet und über 200 inhaftiert wurden, dienen als Blaupause für die zeitgenössischen Kommunist:innenverfolgungen unter Senator Joseph McCarthy. Der Autor, selbst 1956 vom „House Un-American Activities Committee“ verhört, transformiert die puritanische Hysterie in eine universelle Parabel über Machtmissbrauch und kollektive Psychosen.
Die Genialität des Stücks liegt in seiner strukturellen Ambivalenz: Während die Anklagen in Salem aus pubertärer Rebellion und persönlichen Rachegelüsten erwachsen, instrumentalisieren religiöse und politische Autoritäten die Angst der Masse zur Machtzementierung. Dieser Mechanismus wird in der Kieler Inszenierung durch Bühnenbildnerin Anna Bergemann visuell übersetzt: auf abgestuften Podesten werden die Figuren je nach Szene neu angeordnet, sodass vor allem in den Gerichtsszenen schnell ersichtlich wird, wer über wem steht.
Vor Gericht: Elizabeth Proctor (Isabel Baumert) ist der Hexerei beschuldigt und auch ihr Mann John (Rudi Hindenburg, 3. v. l.) steht im Verdacht, gemeinsame Sache mit dem Teufel zu machen. (Bild: Theater Kiel, Olaf Struck)
Zwischen Expressionismus und Sozialdrama
Polasek wählt einen Zugang, der historische Authentizität mit zeitgenössischer Relevanz verbindet. Die Eröffnungsszene – ein ekstatischer Tanz der Mädchen unter blau schimmerndem Licht – oszilliert zwischen archaischer Beschwörung und moderner Performancekunst. Claudia Friebel, Eva Kewer, Rebekka Wurst und Tiffany Köberich verkörpern die adoleszenten Anklägerinnen nicht als bösartige Drahtzieher, sondern als in ihre eigene Hysterie verstrickte Opfer, deren Machtspiel außer Kontrolle gerät.
Was diese Produktion von vielen „Hexenjagd“-Interpretationen unterscheidet, ist ihre Weigerung, einfache Schuldzuweisungen vorzunehmen. Selbst Abigail Williams (Rebekka Wurst) erscheint nicht als berechnende Intrigantin, sondern als Opfer patriarchaler Strukturen, das durch sexuelle Frustration in die Hysterie getrieben wird.
Besonders bemerkenswert ist die psychologische Tiefenschärfe der Charakterzeichnung. Rudi Hindenburgs John Proctor wird nicht zum idealistischen Helden stilisiert, sondern bleibt ein von Schuldgefühlen zerrissener Mensch. Isabel Baumerts Elisabeth Proctor verkörpert hingegen eine moralische Standhaftigkeit, die durch subtile Mimik statt pathetischer Gesten vermittelt wird. Diese Nuancen erreichen ihren Höhepunkt in der Gerichtsszene, in der Nikolaus Okonkwos Richter Danforth die Pervertierung von Rechtsprechung durch perfide Rhetorik demonstriert.
Hindenburg spielt diesen Moment nicht als heroischen Aufschrei, sondern als erschöpften Akt der Selbstbehauptung. Es ist ein Appell an individuelle Verantwortung in Zeiten kollektiver Verblendung – und gleichzeitig eine düstere Warnung vor der Wiederholbarkeit geschichtlicher Traumata.
John Proctor (Rudi Hindenburg) ist einer der wenigen, die noch bei Verstand sind in Salem. Ein falsches Geständnis will er nicht ablegen, sondern lieber seine Würde bewahren – dafür zahlt er einen hohen Preis. (Bild: Theater Kiel, Olaf Struck)
Unbequeme Wahrheiten in meisterhafter Form
Mit dieser Produktion gelingt dem Kieler Schauspielhaus ein Balanceakt zwischen traditionellem Dramenverständnis und innovativer Regiesprache. Die zweieinhalbstündige Aufführung entwickelt eine Sogwirkung, die das Publikum unweigerlich in den Strudel der Ereignisse zieht – und es zugleich zur kritischen Distanz zwingt.
In einem Hier und Jetzt, das von polarisierenden Debatten und moralischen Absolutheitsansprüchen geprägt ist, wirkt Millers Text wie ein seismografisches Frühwarnsystem. Polaseks Inszenierung macht diese zeitlose Brisanz durch präzise Personenführung und visuelle Kraftbilder erfahrbar, ohne belehrend zu werden.
Wer der Hexenjagd selbst beiwohnen möchte, hat dazu noch an diversen Terminen bis zum 11. Juli Gelegenheit. Tickets gibt es wie immer unter theater-kiel.de, an allen Vorverkaufsstellen des Theaters und telefonisch unter 0431 – 901 901.