- Zacharias Preen (vorne) gibt Kleists Dorfrichter Adam in Heinrich von Kleists „Der zerbrochen Krug“ (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
- Einmal mehr überzeugt das gesamte Ensemble im Schauspielhaus. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
- Wurde vom Publikum herzlich willkommen geheißen: „die Neue“ im Theater-Ensemble, Fayola Schönrock (Mitte). (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Die gestrige Premiere von Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ wurde zu einem Theaterereignis, das Regie, Ausstattung und darstellerische Brillanz zu einem Gesamtkunstwerk verschmolz. In allen Aspekten gelang eine unterhaltsame Inszenierung, die dem Publikum nicht nur komödiantische Höhenflüge bot, sondern auch die zeitlose Gesellschaftskritik des Werkes eindrucksvoll zur Geltung brachte.
Um die Bedeutung dieses Abends zu würdigen, lohnt ein Blick auf den Schöpfer des Stückes. Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist, geboren am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder, entstammte einem altadligen pommerschen Geschlecht und führte ein Leben voller Brüche und künstlerischer Rastlosigkeit. Nach sieben Jahren Militärdienst im Potsdamer Garderegiment nahm er 1799 ein Studium an der Brandenburgischen Landesuniversität auf, brach es jedoch nach nur drei Semestern wieder ab. Es folgten Jahre unsteter Wanderschaft durch Europa – Paris, die Schweiz, Dresden, Königsberg, Wien und Prag wurden zu Stationen eines Lebens, das von der Suche nach künstlerischer Anerkennung und existenzieller Sinnfindung geprägt war.
Kleist arbeitete ab 1807 als freier Schriftsteller, gab ein Kunstjournal und die „Berliner Abendblätter“ heraus. Sein Schaffen umfasste acht Dramen, acht Erzählungen sowie zahlreiche Essays und Gedichte, doch zu seinen Lebzeiten wurden nur drei seiner Dramen aufgeführt. Die literarische Welt seiner Zeit stand ihm distanziert gegenüber – er passte weder zur strengen Form der Weimarer Klassik noch zur weltflüchtigen Romantik. Kleist war ein Außenseiter, ein Grenzgänger zwischen den Epochen, dessen Werke erst nach seinem Tod die verdiente Würdigung erfuhren. Am 21. November 1811 beendete er am Kleinen Wannsee bei Berlin sein Leben gemeinsam mit Henriette Vogel durch Suizid.
Das Lustspiel „Der zerbrochne Krug“, zwischen 1802 und 1806 entstanden und 1808 veröffentlicht, nimmt eine besondere Stellung im Werk Kleists und in der deutschen Literaturgeschichte ein. Als eines seiner bekanntesten Werke gilt es heute als Meisterwerk der deutschen Komödie, das weit über einfache Unterhaltung hinausgeht und tiefgründige Fragen zu Gerechtigkeit, Machtmissbrauch und der Willkür der Justiz aufwirft.
Die Uraufführung am 2. März 1808 im Weimarer Hoftheater unter der Regie Johann Wolfgang von Goethes war jedoch ein Fiasko – das Publikum reagierte mit Unverständnis. Zu Lebzeiten Kleists wurde das Stück nie wieder aufgeführt. Erst am 28. September 1820, neun Jahre nach Kleists Tod, feierte die Komödie in Hamburg ihren ersten Erfolg. Seither hat sich das Werk als fester Bestandteil des klassischen Theaterrepertoires etabliert und wird bis heute regelmäßig inszeniert.
Die Handlung spielt im kleinen niederländischen Dorf Huisum und zeigt auf humorvolle Weise die Absurdität eines Gerichtsverfahrens, in dem der Richter selbst der Schuldige ist. Der zerbrochene Krug symbolisiert dabei auf mehreren Ebenen den Verlust von Unschuld und das Zerbrechen gesellschaftlicher Ordnung. Kleists Werk bedient sich literarischer Vorbilder wie König Ödipus aus Sophokles' Tragödie und verbindet biblische Motive – den Sündenfall von Adam und Eva – mit scharfsinniger Gesellschaftskritik im Sinne der aufklärerischen Klassik.
Warum das Stück heute aktueller denn je ist
Mehr als zwei Jahrhunderte nach seiner Entstehung hat „Der zerbrochne Krug“ nichts von seiner Aktualität verloren – im Gegenteil. In einer Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen und Rechtsstaatlichkeit immer wieder auf die Probe gestellt wird, in der Machtmissbrauch und Korruption weltweit Schlagzeilen machen, zeigt Kleists Komödie mit unheimlicher Präzision, wie Macht korrumpiert und wie diejenigen, die Recht sprechen sollen, dieses für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren können.
Die Figur des Dorfrichters Adam – ein Mann in Amt und Würden, der seine Position ausnutzt, um seine eigenen Vergehen zu vertuschen – könnte als Parabel auf zahlreiche gegenwärtige Skandale gelesen werden. Ob in der Politik, in großen Konzernen oder in der Justiz selbst: Die Mechanismen der Vertuschung, die Adam anwendet, sind zeitlos. Er manipuliert Zeugen, schüchtert Untergebene ein, verdreht Tatsachen und versucht, seine Machtposition zu nutzen, um der Verantwortung zu entgehen.
Dabei geht es Kleist nicht nur um individuelle moralische Verfehlungen. „Der zerbrochne Krug“ offenbart ein strukturelles Problem: Was geschieht, wenn diejenigen, die kontrollieren sollen, selbst nicht kontrolliert werden? Wenn die Gewaltenteilung versagt? Wenn Institutionen ihre Legitimität verlieren, weil sie von korrupten Amtsträgern missbraucht werden? Diese Fragen sind heute so drängend wie zu Kleists Zeiten – vielleicht sogar drängender in einer Welt, in der autoritäre Tendenzen zunehmen und demokratische Errungenschaften unter Druck geraten.
Besonders bemerkenswert ist auch die Rolle der Opfer in Kleists Stück. Eve, die junge Frau, die von Adam bedrängt wurde, steht unter enormem Druck und wird faktisch zum Schweigen gebracht – aus Angst vor den Konsequenzen, aus Scham, aus dem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der Autorität. Auch diese Dynamik hat nichts an Relevanz verloren: Die MeToo-Bewegung und unzählige Enthüllungen über Machtmissbrauch in den vergangenen Jahren haben gezeigt, wie schwer es für Opfer ist, sich gegen mächtige Täter zu wehren, und wie oft institutionelle Strukturen die Täter schützen statt die Opfer.
Gleichzeitig bietet das Stück auch eine hoffnungsvolle Botschaft: Die Wahrheit kommt ans Licht. Der Revisor Walter, der von außen kommt und das System kontrolliert, steht für die Notwendigkeit unabhängiger Kontrollinstanzen. In Zeiten, in denen über die Unabhängigkeit von Gerichten, über Pressefreiheit und über die Rolle von Whistleblowern diskutiert wird, zeigt Kleists Komödie, wie essenziell solche externen Kontrollmechanismen für eine funktionierende Rechtsordnung sind.
Einmal mehr überzeugt das gesamte Ensemble im Schauspielhaus. (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Eine Inszenierung, die begeistert
Die gestrige Aufführung bewies eindrucksvoll, warum „Der zerbrochne Krug“ zu den unsterblichen Werken der Theaterliteratur gehört. Regie (Annette Pullen) und Ausstattung (Iris Kraft) schufen einen Theaterabend, der das Publikum begeisterte und die komödiantischen wie gesellschaftskritischen Dimensionen des Stückes gleichermaßen zur Geltung brachte.
Im Zentrum des Abends stand zweifellos Zacharias Preen in der Rolle des Dorfrichters Adam – und er wurde seinem Auftrag in jeder Sekunde mehr als gerecht. Mit großem, verdienten Applaus bedachte das Publikum seine Darstellung dieser komplexen, tragikomischen Figur. Die Rolle des Dorfrichters Adam gehört sicherlich zu den begehrtesten Charakterrollen der deutschen Dramenliteratur, und es bedarf viel schauspielerischer Erfahrung, um dieser Figur gerecht zu werden. Adam ist mehr als nur eine komische Figur – er ist die Personifizierung von Machtmissbrauch, Korruption und menschlicher Schwäche. Als Richter, der zugleich der Schuldige ist, muss er einen Fall aufklären, in dem er selbst der Täter ist – eine absurde Umkehrung der richterlichen Tätigkeit, die den komischen Konflikt des Stückes ausmacht.
Zacharias Preen gelang es hervorragend, die vielfältigen Facetten dieser Figur auszuloten. Die Figur muss gleichzeitig lächerlich und bedauernswert sein, ein Schelm und ein Sünder, ein Opportunist und ein verzweifelter Mensch. Preen beherrschte diese Balance souverän, charismatisch und mit großer Bühnenpräsenz. Seine Interpretation ließ den Zuschauer die Absurdität des Justizsystems ebenso erkennen wie die allgemein menschliche Neigung, sich aus Angst vor Konsequenzen in immer tiefere Verstrickungen zu begeben.
Ein starkes Ensemble trägt den Abend
Doch so hervorragend Zacharias Preen als Dorfrichter Adam auch agierte – der Erfolg des Abends war ein Ensembleerfolg. Nikolaus Okonkwo überzeugte als Gerichtsrat Walter mit der nötigen Autorität und Strenge, die als Kontrapunkt zu Adams chaotischem Treiben fungierte. Rudi Hindenburg als Schreiber Licht verlieh seiner Figur jene Zwiespältigkeit, die zwischen Loyalität zum Vorgesetzten und zunehmendem Misstrauen changiert. Regine Hentschel als Marthe Rull brachte die Empörung und Entschlossenheit der um ihren wertvollen Krug gebrachten Mutter glaubhaft auf die Bühne, während Tomte Heer als Ruprecht Tümpel den betrogenen und aufgebrachten Verlobten mit jugendlichem Feuer darstellte. Agnes Richter meisterte in der Doppelrolle als Frau Brigitte und als Magd souverän die unterschiedlichen Anforderungen beider Charaktere.
Wurde vom Publikum herzlich willkommen geheißen: „die Neue“ im Theater-Ensemble, Fayola Schönrock (Mitte). (Bild: Olaf Struck, Theater Kiel)
Ein gelungener Einstand für Fayola Schönrock
Besonders herzlich fiel der Applaus auch für Fayola Schönrock aus, die als Eve Rull nicht nur ihre Rolle überzeugend verkörperte, sondern gestern Abend auch ihren Einstand in diesem Ensemble gab. Ihre Eve fand den schwierigen Weg zwischen jugendlicher Unschuld, dem Mut zur Wahrheit und der Zerrissenheit einer unter Druck gesetzten jungen Frau. Schönrock gelang es, die Vulnerabilität ihrer Figur ebenso darzustellen wie deren wachsende Entschlossenheit, sich nicht länger zum Schweigen bringen zu lassen. Der warme Applaus des Publikums war nicht nur Anerkennung für eine gelungene Leistung, sondern auch ein herzliches Willkommen in Kiel.
„Der zerbrochne Krug“ in der gestrigen Aufführung war Theater in seiner schönsten und wichtigsten Form: ein Zusammenspiel von literarischer Qualität, künstlerischer Vision und darstellerischer Exzellenz, das unterhält und zugleich zum Nachdenken anregt.
Wer das absurde Schauspiel nicht verpassen möchte, hat dazu noch an zahlreichen Terminen bis in den April 2026 hinein die Gelegenheit. Tickets gibt es wie immer unter theater-kiel.de, telefonisch unter 0431 – 901 901 und an allen Vorverkaufsstellen des Theaters.